Archivpädagogik
Archivpädagogisches Modell zur Prävention rechtsextremistischer Tendenzen in der Region
Ein Pilotprojekt zur Begegnung neonazistischer Strömungen durch Aufklärung
Konzipiert und durchgeführt von Menna Hensmann, erprobt im Archiv und Rathaus der Stadt Leer/ Ostfriesland, Rathausstraße 1, unterstützt und finanziert vom Arbeitsamt Leer, der Stadt Leer und dem Landkreis Leer.
Das Auftreten von Gruppen junger Skinheads ist heute leider keine Ausnahmeerscheinung mehr. Auch nicht im ostfriesischen Raum. Kahlgeschorene Bomberjackenträger tyrannisieren und dominieren Gleichaltrige in Jugendzentren, auf der Straße, in Diskotheken, den Schulen.
Das Gewaltpotential steigt stetig. Die Hemmschwelle zuzuschlagen, leider oft auch schon mit tödlichem Ausgang, überschreiten diese "Neos", wie sie im flapsigen Neuhochdeutsch genannt werden, im Schutz der Gruppe mit einer beängstigenden Selbstverständlichkeit und unberechenbar spontan. In vielen unterschiedlichen Situationen, die sich ihnen jederzeit und überall bieten können, eskaliert die Gewalt.
Viele Jugendliche - insbesondere in strukturschwachen Regionen – vegetieren orientierungslos vor sich hin. Allein mit ihrer Arbeits- und Perspektivlosigkeit fühlen sie sich hilflos und minderwertig. Aufwertung erfahren viele durch die vermeintliche Macht, die sie aufgrund der gemeinschaftlichen Gesinnung und der ausufernden Gewaltbereitschaft in der Gruppe über andere zu haben scheinen. Die Hintergründe und Grundsätze dieser Szene werden von ihnen selten hinterfragt oder verstanden.
Von diesen Menschen geht eine Gefahr aus, die nicht unterschätzt werden darf, wie uns unsere jüngere Geschichte lehrt. Mit ihren rechten Parolen wiegeln sie gegen Minderheiten auf, insbesondere gegen Ausländer, auf die nicht selten regelrechte "Treibjagden" veranstaltet werden. Dem stetigen Anwachsen dieser rechten Szene muss durch öffentlichen Widerstand, Aufklärung und laute Empörung Einhalt geboten werden, denn - die "paar" Rechtsradikalen dürfen nicht auf die leichte Schulter genommen werden.
Wer bremst den rechten Mob, wenn nicht diejenigen, die aus der Geschichte gelernt haben oder die Geschichte lehren?! Es liegt auf der Hand, dass man dieses Zeitphänomen genau hinterfragen und ihm verantwortungsvoll und ernsthaft begegnen muss, um eine weitergehende Eskalation der Gewalt zu verhindern.
Wie damals in den 30er Jahren ist der Nährboden für die rechte Saat niemals fruchtbarer gewesen denn heute: Arbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit, zunehmender Fremdenhass, verlorene Werte, sozialer Abbau etc.
Der Rechtsextremismus sieht sich auch heute geschultert von geistigen Trittbrettfahrern und bequemen Claqueuren, die beispielsweise auf eine "Endlösung des Ausländerproblems" drängen. Erst recht seit den einschneidenden Ereignissen des 11. Septembers. Parallelen zu den Jahren vor der Machtübernahme drängen sich förmlich auf:
11. Juni 2000. In der Nacht zum Pfingstsonntag wird der aus Mosambik stammende Schlachter Alberto Adriano 50m vor seinem Haus in Dessau von drei Skins bewusstlos geschlagen. Sie treten mit Turnschuhen und Springerstiefeln gegen seinen Kopf, in seinen Bauch, in sein Gesicht. Mindestens fünf Minuten lang. Sie ziehen seine Hose herunter, die Unterhose. Ein Autofahrer alarmiert die Polizei über sein Handy. Drei Nächte liegt Alberto Adriano im Koma, dann stirbt er.
68 Jahre zuvor eine ähnliche Situation:
In der Nacht vom 9. /10. August 1932 überfallen vier SA-Angehörige den Bergarbeiter Konrad Pietrzuch aus politischen Beweggründen und trampeln ihn geradezu mit viehischer Bestialität zu Tode. Die Leiche weist nach Zeugnis des Gerichtsarztes vierundzwanzig schwere Verletzungen auf. Der Tod ist durch Ersticken eingetreten, da das Blut aus der zerrissenen Halsschlagader durch den offenbar von einem Stiefelabsatz zerfetzten Kehlkopf in die Lunge eingedrungen ist. Die Tat ist in Gegenwart der Mutter des Getöteten geschehen. Der anwesende Bruder ist gezwungen worden, sich mit dem Gesicht zur Wand zu stellen. Am 22. August verurteilt das Sondergericht bei dem Landgericht in Beuthen die vier SA-Männer wegen Totschlags zum Tode.
Im Januar 1932 sind bei den Arbeitsämtern 6 128 429 Arbeitslose gemeldet. Die Zahl der Vollarbeitslosen, Kurzarbeiter und der sogenannten unsichtbaren Arbeitslosen beträgt 9 619 000. Perspektivlosigkeit macht sich breit. Die Aktivität der NSDAP im Jahre 1931 gibt Veranlassung für politische Überlegungen, Aktionen und publizistische Darstellungen. Ende 1931 kommt es in Beantwortung der Herausforderung der Harzburger Front zur Bildung der "Eisernen Front" (Symbol: Drei Pfeile), die von Reichsbanner, SPD, Freien Gewerkschaften und Arbeitersportorganisationen getragen wird. Ihr schließt sich auch Carl Zuckmeyer an:
"Wir haben versäumt, als unsere Zeit und unsere Stunde war, ihnen zuvorzukommen. Als Carlo Mierendorff das Symbol der drei Pfeile erfand, mit dem junge Sozialisten nachts die Hakenkreuze übermalten, war es zu spät, um sie noch zum Symbol jener großen Volksteile werden zu lassen, die sich seit Jahren verlassen und ausgeschaltet fühlten..."
Sofern wir heute aufgrund der uns bekannten Fakten der deutschen Vergangenheit den Anfängen wehren, wie Zuckmeyer es damals für Deutschland gewünscht hätte, präventiv tätig werden durch Aufklärung beispielsweise, in jeglicher Weise aktiv werden gegen rechts, sollte es möglich sein, dieser Entwicklung auch in unserer Region erfolgreich entgegenzuwirken. Dieses setzt voraus, dass man sich der Verantwortung stellt und diese bedenklichen Tendenzen nicht widerstandslos ausufern lässt. Nach dem Motto: In Ostfriesland ist die Welt noch in Ordnung....
Weit gefehlt! Im abgelegenen Rheiderland formieren sich ebenso die Neos wie anderswo auch. Sie skandieren ihre rechten Parolen, beschmieren Grabsteine mit Runen und stören Zusammenkünfte, die beispielsweise anlässlich des Gedenkens ermordeter jüdischer Bürger stattfinden. So etwas darf nicht verharmlost werden als "Dummejungenstreiche".
Der Publizist Sebastian Haffner (1907 – 1999) thematisierte in seiner "Geschichte eines Deutschen" nicht Hitler, sondern die deutsche Tragödie: Die widerstandslose Unterwerfung der nichtnazistischen Mehrheit der Deutschen unter ein Totschläger-Regime. Die schändliche Kapitulation der gesellschaftlichen und geistigen Elite vor der Barbarei. Den moralischen Zusammenbruch, der in dieser Breite und Tiefe ohne Beispiel in der europäischen Geschichte ist. Das unsägliche Schauspiel der speichelleckenden Selbsterniedrigung einer Kulturnation, das so stolz auf seine feinsinnige Seele war. Terror der SA, Zusammenbruch des Rechtsstaates, Zensur, Angst, Panik, Bespitzelung, Auflösung privater Freundschaften etc. ... . Niemand hatte damals so etwas erwartet, niemand war vorbereitet. Die Antwort war: Schweigen, Ducken, Wegsehen.
Noch am 5. März 1933 war die Mehrheit der Deutschen gegen Hitler. Was ist aus dieser Mehrheit geworden? Es folgte Panik, Flucht, Überläuferei, die innere Loslösung vom eigenen Land. Diejenigen, die das nicht fertig brachten, stolpern seither seelisch und geistig bewegungsunfähig einher, schaudernd vor den Verbrechen, die in ihrem Namen begangen wurden.
Nach Haffner wurde die Katastrophe des Dritten Reiches von den Millionen anonymer schweigender Einzelpersonen programmiert, die 1933 innerlich kapituliert und ihre Überzeugung und ihre Integrität verrieten.