Laudatio auf Arend Remmers
Vielen Dank an Herrn Prof. Dr. Hermann Niebaum aus Osnabrück, der freundlicherweise seine Rede zur Publikation zur Verfügung gestellt hat.
Laudatio auf Arend Remmers zur Verleihung des „Wilhelmine-Siefkes-Preises der Stadt Leer 2006“ in Leer am 16.3.2006
Verehrte Anwesende!
Als ich Anfang des Jahres gebeten wurde, eine Laudatio auf den diesjährigen Siefkes-Preisträger Arend Remmers zu halten, habe ich sofort zugesagt. Zwar kannte ich Herrn Remmers – bis heute – nicht von Angesicht zu Angesicht, doch hatte ich immer wieder einmal mit ihm zu tun – zuerst in meiner Eigenschaft als Herausgeber des „Niederdeutschen Jahrbuchs“. Für dessen Jahrgänge 117-119 habe ich in den Jahren 1994 bis 1996 Remmers‘ großen und wichtigen, in der wissenschaftlichen Fachwelt beachteten dreiteiligen Aufsatz „Zum ostfriesischen Niederdeutsch“ redaktionell betreut. Bei unseren Kontakten ging es nicht nur um editorische Fragen, wir haben uns immer wieder auch über Aspekte des friesischen Substrats, der Entfriesung, der westfälischen und niederländischen Einflüsse und der eigenständigen Besonderheiten ausgetauscht. Remmers hat das Ostfriesisch-Niederdeutsche nie isoliert betrachtet, sondern immer auch über den ostfriesischen Tellerrand geschaut.
Von diesem erweiterten Blickwinkel fühlte ich mich als Leiter des Nedersaksisch Instituut der Rijksuniversiteit Groningen, das – wie Sie vielleicht wissen – seit seinem Gründer Klaas Hanzen Heeroma sowohl wissenschaftlich wie im übertragenen Sinne die deutsch-niederländische Staats- und Sprachgrenze zu überschreiten und die sprachlichen und kulturellen Gemeinsamkeiten, aber auch das Trennende zu erforschen und zu beschreiben versucht – besonders angesprochen. Friesische Interferenzen, d.h. Spuren dieser eigenständigen westgermanischen Sprache, haben Arend Remmers nicht nur hinsichtlich des ostfriesischen Niederdeutschen interessiert, sondern auch in Bezug auf die Nachbargebiete Ostfrieslands, also Groningerland, Jeverland, Ammerland und Emsland sowie das Land Wursten. Für die weitere Forschung sind dann insbesondere die kenntnisreichen Wortartikel zu den friesischen Reliktwörtern von Bedeutung, die Remmers in diesem Zusammenhang vorgelegt hat: von heute nicht mehr begegnendem +andern ‘Fenster’ bis wringe ‘Weidezauntor’.
Von Anfang an hat mich die erstaunliche Belesenheit von Arend Remmers beeindruckt und seine Kenntnis der einschlägigen Forschungsliteratur. Und dies bei einem Autor, der, wie ich erfuhr, wohl eine sprachwissenschaftliche Ausbildung hatte – er studierte in Heidelberg englische und französische Philologie und schrieb eine Magisterarbeit zum „Präfix un- im Altenglischen“ –, dann aber beruflich ganz andere Wege beschritt: zunächst 15 Jahre in der Stahlindustrie, zuletzt als Verkaufsleiter, danach von 1981 bis heute, schriftstellerisch und reisend, in der biblischen Verkündigung. Seine zahlreichen Beiträge in christlichen Zeitschriften und die inzwischen mehr als 15 selbständigen Veröffentlichungen über biblische und bibelkundliche Themen legen hiervon beredtes Zeugnis ab. Die Beschäftigung mit der Sprachwissenschaft und die in diesem Zusammenhang entstandenen einschlägigen Untersuchungen sind für Arend Remmers im besten Sinne Produkte der Nebenstunden, der berufsfreien Zeit oder – wie wir heute zu sagen pflegen: Hobby. Dabei ist der Autor allerdings nie hobbyistisch vorgegangen, er hat an seine Arbeit immer wissenschaftliche Maßstäbe angelegt. Und dies gilt natürlich auch für Remmers‘ weitere sprachwissenschaftliche Arbeiten, auf die ich noch näher eingehen werde.
Doch lassen Sie mich, meine Damen und Herren, hier zunächst kurz die Frage aufgreifen: Was hat auf Ostfriesland und das Friesische bezogene Sprachwissenschaft mit Wilhelmine Siefkes zu tun? Auch wenn ich zugeben muss, dass ich die Verleihungen des Wilhelmine-Siefkes-Preises zwar interessiert, aber doch eher aus der Entfernung verfolgt habe: natürlich sind mir die Veröffentlichungen dieser bedeutenden Leeranerin, deren Werke zum Kanon der neuniederdeutschen Literatur gehören, geläufig. Deswegen hatte ich den Wilhelmine-Siefkes-Preis bislang eher im Zusammenhang der Auszeichnung literarischer Werke gesehen. Insofern lag es nahe, die Vergaberichtlinien dieses Preises einmal genauer in Augenschein zu nehmen. In der Ausschreibung für das Jahr 1994 zum Beispiel heißt es: „Der Wilhelmine-Siefkes-Preis der Stadt Leer für nedersaksische Literatur“ – damit wird aus meiner Sicht ein Terminus verwendet, der erfreulicherweise staatsgrenzenüberschreitend angelegt ist – „wird bevorzugt für Werke vergeben, die Themen der Gegenwart oder der Zeitgeschichte behandeln und die auch jugendliche Leser zu interessieren und zu gewinnen vermögen.“ Und weiter: „Vorgeschlagen und eingereicht werden können Werke aller Formen und Genres, die noch nicht oder seit dem Jahre 1990 veröffentlicht worden sind. Sie müssen in nedersaksischer Mundart oder einer Mundart aus dem Gebiet der Ems-Dollart-Region geschrieben sein“ – der letzte Satz erscheint mir ein wenig kryptisch, insofern die Mundarten der Ems-Dollart-Region ja auch nedersaksisch sind. In den entsprechenden Richtlinien für 1998 wird der Preis dann „für niederdeutsche/nedersaksische“ bzw. für 2002 dann „für niederdeutsche Literatur“ ausgeschrieben; in beiden Fällen müssen die Werke, wie es jetzt heißt, „in niederdeutscher/nedersaksischer Sprache“ geschrieben sein.
Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass es in den letzten Jahren nicht immer einfach gewesen ist, Texte in niederdeutscher/nedersaksischer Sprache auszuwählen, zumal auch der vierjährige Vergabeturnus dazu geführt haben mag, dass viele Texte, die möglicherweise preiswürdig waren, bereits in der Zwischenzeit prämiert wurden und damit – gemäß den Richtlinien – „vom Wettbewerb ausgeschlossen“ blieben. Von daher ist es aus meiner Sicht eine wegweisende Entscheidung gewesen, die Vergabebedingungen für 2006 zu ändern. Sie wurden einerseits mit Blick auf die Form der Texte erweitert, andererseits jedoch enger gefasst in Hinsicht auf den thematischen Gegen-stand. Denn nunmehr wird, wie es in den Richtlinien heißt, der „Wilhelmine-Siefkes-Preis der Stadt Leer für Werke vergeben, die in Ostfriesland entstanden sind oder ein ostfriesisch-regionales Thema wählen oder die Wechselbeziehungen zwischen Ostfriesland und anderen Regionen behandeln. Der plattdeutschen Sprache kommt hierbei als Ausdrucksmittel und/oder als Thema eine besondere Bedeutung zu.“ Jetzt können auch „Sachtexte oder audiovisuelle Werke [...] aus allen thematischen Bereichen“ prämiert werden. Auch wenn ich Wilhelmine Siefkes nicht persönlich gekannt habe: Ich meine, sie wäre mit dieser Erweiterung der Vergabebedingungen des nach ihr benannten Preises einverstanden gewesen, zumal sie selbst zahlreiche Sachtexte geschrieben und noch über achtzigjährig begonnen hat, an einem Wörterbuch des ostfriesischen Plattdeutschen zu arbeiten.
Nach diesem aus meiner Sicht notwendigen Exkurs zum Vergabemodus komme ich auf unseren diesjährigen Preisträger zurück. Im Jahre 1997 hat Arend Remmers das Buch „Plattdeutsch in Ostfriesland“ vorgelegt, ein Buch, das die Laut-, Formen- und Satzlehre der „Mundart von Moormerland-Warsingsfehn“ behandelt. Auch wenn hier, um den „nicht fachlich vorgebildeten Lesern die Lektüre zu erleichtern“ bei der Notation neben phonetischer Transkription auch eine „normalisierte Schreibweise“ Verwendung findet, so wird dieses in bester strukturalistischer Manier geschriebene Buch – so fürchte ich – wohl nur wenige Leser außerhalb des eigentlichen Wissenschaftsbetriebs gefunden haben. Von besonderem Interesse ist auch hier wieder die tatsächliche oder vermeintliche friesische Herkunft der untersuchten Mundartwörter. In dieser Hinsicht ist in den Rezensionen gelegentlich ein Fragezeichen gemacht worden, insgesamt wurde die Beschreibung der Mundart von Warsingsfehn aber durchaus positiv aufgenommen.
Bevor ich nun auf das preisgekrönte Buch selbst eingehe, möchte ich doch noch einen weiteren dreiteiligen Aufsatz von Arend Remmers mit dem Titel „Tiernamen in Siedlungsnamen zwischen Ems und Jade“ erwähnen, der in den Jahren 2000-2002 in den Jahrgängen 52-54 der – inzwischen leider eingestellten – Zeitschrift „Driemaandelijkse Bladen“ unseres Groninger Nedersaksisch Instituut erschienen ist. Remmers geht es dabei nicht um Siedlungsnamen, die auf das Vorkommen bestimmter Tierarten Bezug nehmen, vielmehr untersucht er solche Siedlungsnamen, die in ihrer heutigen Form einen Tiernamen als Namenelement zu enthalten scheinen, in Wirklichkeit aber einen ganz anderen Ursprung haben. So ist z. B. der Siedlungsname Otterdeich im Bereich der Stadt Wittmund, wie Remmers ausführt, wohl kaum auf das betreffende, im Süßwasser lebende Tier zurückzuführen, sondern allem Anschein nach an das fries.-mnd. Appellativum ūterdīk ‘Außendeich, Deichvorland’ anzuschließen. Die sprachlichen und etymologischen Erläuterungen der untersuchten Namen sind in historisch-geogra-phische und kulturhistorische Zusammenhänge eingebettet, die die Lektüre geradezu zum Vergnügen machen. Die behandelten Namen finden sich übrigens – in knapper, lexikalischer Form – auch in dem mit dem „Wilhelmine-Siefkes-Preis der Stadt Leer 2006“ ausgezeichneten Buch „Von Aaltukerei bis Zwischenmooren. Die Siedlungsnamen zwischen Dollart und Jade“, das uns letztlich heute hier zusammenführt und auf das ich nun etwas ausführlicher eingehen möchte.
Einen kleinen Eindruck von der Arbeitsweise und der Belesenheit des Autors mag der Hinweis geben, dass von den insgesamt 314 Seiten des Buches allein 26 Seiten der Auflistung der verwendeten Quellen und der ausgewerteten Sekundärliteratur vorbehalten sind. Gegenstand dieser gleichermaßen grundlegenden wie umfassenden Darstellung sind die Siedlungsnamen, d.h. die Namen der Städte, Flecken, Dörfer sowie zahlreicher Einzelgehöfte, soweit diese in offiziellen Verzeichnissen zu finden waren. Das Untersuchungsareal umfasst das ehemals friesischsprachige Gebiet zwischen – wie es schon im Titel heißt – Dollart und Jade, d. h. alle Gebiete zwischen der Staatsgrenze zu den Niederlanden und dem Jadebusen, also die gesamte ostfriesische Halbinsel einschließlich des Landkreises Friesland und der Stadt Wilhelmshaven. Arend Remmers‘ Ziel war die Erfassung möglichst aller Siedlungsnamen, und zwar vom Anfang der schriftlichen Überlieferung bis in die Gegenwart. Als „Einzelkämpfer“ war es ihm nicht möglich, das gesamte einschlägige ungedruckte Archivmaterial durchzusehen; im Wesentlichen hat er sich daher auf die Erfassung gedruckter Quellen beschränken müssen. Die Auswertung reicht von den Werdener Urbaren aus dem 9. bis 11. Jahrhundert über die materialreichen Ostfriesischen und Oldenburgischen Urkundenbücher für die Zeit des Mittelalters, Schatzungs- und Bevölkerungsregister des 16. bis 18. Jahrhunderts, Amtsbeschreibungen und Landesbeschreibungen vornehmlich des 18. und 19. Jahrhunderts bis hin zu den seit Anfang des 19. Jahrhunderts erschienenen behördlichen Ortsverzeichnissen. Einbezogen sind auch im Dollart untergegangene Siedlungen. Dass Arend Remmers in solch umfassender Weise die historischen Namensformen einbezogen hat, ist der Tatsache geschuldet, dass es – wie er völlig richtig herausstreicht – zu den wesentlichen Aufgaben eines Ortsnamenlexikons gehört, die Namen zu deuten. Hierzu ist es unerlässlich, möglichst die ältesten Belege der betreffenden Namen zu erfassen, denn deren Deutung kann nicht auf den heutigen Formen basieren. In die Deutung mit einbezogen werden muss die Kenntnis der örtlichen Gegebenheiten. Auch wenn hier in den letzten Jahren die Forschung wichtige Beiträge geliefert hat, so dass viele neue Erklärungen möglich wurden, die den heutigen wissenschaftlichen Anforderungen genügen: Ein Rest von Namen verbleibt indessen, sie können auch weiterhin nicht endgültig gedeutet werden.
Arend Remmers vermittelt uns mit seinem alphabetisch geordneten Buch überdies Einsichten in siedlungs- und kulturgeschichtliche Zusammenhänge. So können wir von Suffixen und Kompositionsgliedern der behandelten Namen beispielsweise auf das Alter oder die natürlichen Gegebenheiten der Siedlungen schließen. Die Suffixe -ens und -ingen, mit denen Zugehörigkeit zum Ausdruck gebracht wird, sowie auch die durchsichtigen Zusammensetzungen mit -heim oder -warden kennzeichnen z. B. das Altsiedelland der Marsch. Hier liegen die Siedlungen meist auf künstlich aufgeschütteten Warfen oder Wurten. Namenelemente mit Altendeich oder -reihe/-riege verweisen auf die Groden- oder Poldersiedlungen, die insbesondere seit den Neueindeichungen des ausgehenden Mittelalters entstanden sind. Seit dem 17. Jahrhundert wurden zunehmend die Moore und Sandgegenden erschlossen; hierauf verweisen z. B. Siedlungsnamen mit -fehn. Einschlägige, häufiger vorkommende Namenelemente sind, nicht zuletzt auch zur Entlastung der Namenartikel, in einem gesonderten Verzeichnis erklärt; dort finden sich dann auch Zusammenstellungen der Siedlungsnamen mit dem entsprechenden Grund- oder Bestimmungswort. Schon dieses Verzeichnis allein ist für namenkundlich Interessierte eine ausnehmend spannende Lektüre. Und es erschließt sich hieraus dem Betrachter auch die Begründung, warum in manchen Gegenden von alters her Ruf- und Familiennamen als Bestimmungswörter und Bezeichnungen wie -heim, -warf, -burg, -dorf, -haus verbreitet sind. Dies ist, wie wir lernen, vor allem darauf zurückzuführen, dass insbesondere in der Marsch hervorstechende Geländemerkmale fehlen, die man zur Namengebung hätte heranziehen können.
Arend Remmers hat mit seinem Buch für den ehemals friesischen Sprachraum ein Standardwerk vorgelegt, auf das andere Siedlungsnamenlandschaften neidvoll aufschauen werden. Die Namenartikel sind klar gegliedert, sie bieten zum heutigen Namen die historischen Belege und geben – in wünschenswerter Behutsamkeit – vor dem Hintergrund sprachlicher, aber auch siedlungsgeschichtlicher und kulturhistorischer Zusammenhänge etymologische Deutungen. „Von Aaltukerei bis Zwischenmooren“ ist für den an der Geschichte und Kultur Nordwestdeutschlands Interessierten ein wichtiges Grundlagenwerk. Seinem Autor Arend Remmers ist aus meiner Sicht der „Wilhelmine-Siefkes-Preis der Stadt Leer 2006“ zu Recht zuerkannt worden. Ich möchte ihm hierzu recht herzlich gratulieren, zugleich aber auch der Jury zu ihrer Wahl meine Anerkennung aussprechen.